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  Critics cleines Blog - wie die amerikanische Axt im Waldi
Als ich ein junger Bengel war, sind meine Eltern mit mir im Sommer an die Ostsee gefahren. Von unserem Zelt aus war es nicht weit bis zum Strand, dessen Sand sich in langgezogener Kurve sanft ins Meer ergoß. Die Sonne brutzelte die Haut knusprig und das Meer streute kleine Salzkrümel darauf. Kleiner Goldbroilertraum.
Doch ab und zu machten wir einen Abstecher zum Weststrand. Das hatte definitiv seine Vorteile. Ein beständiger Wind trieb die Wellen kindermeterhoch und ließ das Baden wie ein ungeahntes Wagnis erscheinen. Dennoch waren mir diese Ausflüge dahin verhasst. Der Wind trug beständig feinkörnigen Sand mit sich. Ein Wunder, daß der Strand nicht schon seit Urzeiten abgetragen war. Diese Körner zwackten wie Krampen auf der Haut. Man musste sich hinter selbstgebastelten Schutzwällen in Mulden verkriechen, weil sonst, so meine damalige Vorstellung, bald nur noch Fetzen blutigen Fleisches meine Knochen bedecken würden. Die Erwachsenen schienen nichts von diesem fiesen Walten der Natur mitzubekommen. Wahrscheinlich würde ich mich heute auch nicht mehr daran stören.

Victor Sjöström kannte natürlich meine Kindheit nicht. Er starb 1960, lange bevor diese Urlaube meine Erinnerungen prägen konnten. Doch sein Film The Wind ist von einer Universalität, die auf die eine oder andere Weise die Erfahrungswelt eines jeden berührt. Dabei ist die Geschichte in Sjöströms Film ziemlich simpel. Letty, ein verwaistes Stadtmädchen, fährt zu ihrem Cousin, um auf dessen texanischer Ranch unterzukommen. Schon im Zug lernt sie den windigen Geschäftsmann Roddy kennen, der ihr das Blaue vom Himmel verspricht, aber von ihr abgewiesen wird. Auf sie wartet ein glorioses Leben beim Cousin! Die Zukunft ist aber reichlich unerquicklich, weil dessen raubeinige Frau auf die feminine Letty alles andere als freundlich reagiert. Eine Heirat muss her, also wird der erstbeste Cowboy genommen. Daß der auch, ähem, pimpern will, ist Letty aber nicht ganz klar, ist sie doch ins rosarote Märchenland aufgebrochen. Darin haben rote Laken nichts verloren. Während eines besonders heftigen Sturmes bleibt Letty allein zu Hause und wird im Angesicht der Naturgewalten schier wahnsinnig. Taucht da der alte Charmeur Roddy auf, um sie von Texas zu erlösen? Um sie zu verführen? Um sie zu vergewaltigen gar?

Wie gesagt, nichts Außergewöhnliches für eine Erzählung der damaligen Zeit. Junges Mädchen muss sich mittellos durchschlagen und deshalb unter Aufgabe der persönlichen Glücksvorstellungen in die Gegebenheiten der Geschlechterhierarchie einpassen. Die Ausgestaltung des Absturzes aus der besseren Stadtgesellschaft in die einfache rurale Welt mag einen Teil der Attraktivität des Filmes ausmachen. In den Status des Besonderen hebt Sjöström seinen Film aber, indem er die charakterliche Disposition seiner Hauptfigur expressiv in die Sandstürme einschreibt. Sie sind es, die uns mehr als alles andere etwas über das Gefühl des seelischen Verdorrens von Letty erzählen. Wenn der Sand vom Brot rieselt, dann erkennen wir ihre Abscheu vor dem Fraß der Hinterwäldler. Wenn der Wind gegen die Fenster peitscht, dann sehen wir ihre Furcht vor der befremdlichen Welt da draußen. Wenn der Sturm eine Fensterscheibe eindrückt, dann bricht nicht einfach das Glas, sondern die Sicherheit eines geschützten Innens geht für Lettys Seele verloren.

Die Intensität dafür erreicht Sjöström durch Überblendungen, die uns die Gewalt der beseelten Naturkräfte präsent machen. Eine wiederkehrende Sequenz ist die Überlagerung von Sturmwolken mit einem wild herumspringenden Schimmel, dessen Bilder für die damalige Zeit ungewöhnlich lebendig eingefangen sind. Zusätzlich macht der Regisseur dem Zuschauer die Verheerungen spürbar, indem er die Schauspieler während der Dreharbeiten der ganzen Härte des Wüstenlebens aussetzte. Er ließ mitten in der Mojave-Wüste bei 45°C filmen, wobei die Sandstürme von acht Flugzeugpropellern erzeugt wurden. Wegen deren Hitze- und Rauchentwicklung mussten die Crewmitglieder in langen Kleidern und mit Schutzbrillen arbeiten. Sicherlich ein Vergnügen bei Außentemperaturen, die der Hauptdarstellerin Lillian Gish beim Dreh ein Stückchen Haut wegschmorten, als sie ein Metallstück anfasste.

Lillian Gish ist sicherlich die richtige Wahl für die Rolle der Letty gewesen. Ihr leicht übertriebenes Spiel trifft den deliranten Kern ihrer Figur, ihre zerbrechliche Gestalt wird dermaßen vom Wind gebeutelt, daß sie manchmal wie eine Hexe in der Walpurgisnacht im Wind zu tanzen scheint, und ihre Zartheit gibt einen guten Kontrast zur Statur von Dorothy Cummings, die des Cousins eifersüchtige, harte Ehefrau spielt. Deren Aufeinandertreffen mit Letty ist eine Glanzleistung Sjöströms, der nur wenige Utensilien und Szenen benötigt, um die unauflösbare Gegensätzlichkeit der beiden Frauenfiguren herauszuarbeiten. Übertroffen in seiner knapp bemessenen Reichhaltigkeit wird diese Szene nur noch von Lettys Hochzeit; ein kleines Juwel an Akkuratesse, mit wenig Bildern viel zu erzählen und damit ein Maximum an Spannung zu erzeugen. Lettys und Liges, ihres Mannes, Haltung zur Hochzeit wird allein in einem Bild der beiden Hände während der Ringübergabe eingefangen. Bei soviel inszenatorischer Bravour verzeiht man auch gerne das unglaubwürdige Ende und den Einsatz des "lustigen" Sidekicks.
The wind, entstanden kurz vor der Durchsetzung des Tonfilmes, ist ein Werk, welches wirklich davon profitiert, daß man nicht die Banalität der Dialoge hören muss, sondern sich statt dessen vollkommen an der Expressivität der Bilder ergötzen kann. Sjöströms Film, beeinflusst von der russischen und deutschen Avantgarde, dürfte einflussreich auf Nachfolgewerke gewesen sein, ist sein Bild- und Motivrepertoire in so disparaten Filmen wie The wizard of Oz (Der Zauberer von Oz) und C'era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod) wiederzufinden.

Eine Schande, daß es noch keine DVD-Veröffentlichung dieses hervorragenden Werkes gibt. Ingmar Bergman hat Sjöströms Verdienste jedenfalls zu Recht honoriert und ihm eine letzte Auftrittsmöglichkeit in seinem Film Smultronstället (Wilde Erdbeeren) gegeben. Ein alter Mann ist Sjöström da, als Person und als Rolle, der den Sand nicht mehr auf seiner Haut spürt. Man gewöhnt sich über die Jahre an die kleinen Stiche der Körner. Nichts Erstrebenswertes. Aber auch nichts, dessen man sich schämen müßte. In der Rückschau zählen andere Dinge. Werke wie The wind eben.

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